Der Alltag ist voll von Zusammenstößen mit anderen Menschen, entweder im übertragenen Sinne oder auch ganz wörtlich: Der Typ in der Schlange hinter dir hat dir jetzt das dritte Mal seinen Einkaufswagen in die Hacken gerammt. Eine Autofahrerin ist so knapp und so schnell an dir vorbeigezischt, dass du fast vom Fahrrad geflogen wärst. Ein Kunde schnauzt dich am Telefon für etwas an, das nicht dein Verschulden ist.
Früher hätte mir sowas leicht den Tag verderben können. Heute kann ich damit deutlich gelassener umgehen dank einer Methode aus dem NLP (Neurolinguistisches Programmieren): Ich frage mich, welche positive Absicht wohl hinter dem Verhalten der anderen Person steckt, über die ich mich gerade so ärgere.
Hinter jedem Verhalten steht eine positive Absicht
NLP ist nicht nur ein Methodenkoffer, sondern vor allem eine Frage der inneren Haltung. Eine der Grundannahmen im NLP ist: Hinter jedem Verhalten steht eine positive Absicht. Das menschliche Verhalten ist darauf ausgerichtet, etwas Wertvolles für uns zu erreichen, unabhängig von möglichen Nebenwirkungen. So kann es sein, dass ein Verhalten einen unerwünschten Einfluss auf unser eigenes Leben hat – oder auch auf das anderer Menschen, wie in den Beispielen oben.
Im NLP wird daher die Absicht hinter einem Verhalten von der Aktion selbst getrennt. Wenn wir uns über etwas ärgern, dann deshalb, weil wir die positive Absicht dahinter nicht erkennen. Das gilt übrigens auch bei Verhaltensweisen, die wir an uns selbst nicht mögen.
Das ärgerliche Ereignis bekommt eine neue Bedeutung
In der Praxis sieht das bei mir so aus: Sobald mir irgendjemand auf die Nerven geht oder ich merke, wie ich innerlich anfange zu grollen, frage ich mich selbst, was die positive Absicht hinter diesem Verhalten sein könnte.
Der Typ mit dem Einkaufswagen scrollt vielleicht gerade durch den Feed seiner Dating-App, stützt sich dabei auf seinem Einkaufswagen ab und merkt gar nicht, dass der mir dabei in die Hacken rollt. Die positive Absicht seines Körpers könnte sein: gemütlichste Warteposition einnehmen. Die rasende Autofahrerin ist bestimmt mal wieder zu spät, um ihr Kind aus der Kita abzuholen. Und der wütende Kunde hat gleich ein Meeting, und damit er auf kritische Fragen aus dem Team gelassen reagieren kann, braucht er eine Möglichkeit, um irgendwo Dampf abzulassen.
Ob meine Überlegungen stimmen oder nicht, ist irrelevant. Mit diesem innerlichen Schritt zurück bekommt das Verhalten für mich eine neue Bedeutung, für die ich mehr Verständnis aufbringe. Und die nichts mit mir zu tun hat. Infolgedessen ärgere ich mich nicht mehr so sehr. Mehr will ich in dem Moment gar nicht! Die Überlegungen sind übrigens keine Entschuldigung für das Verhalten. Nur eine Erklärung dafür, was daran sinnvoll sein könnte.
Durch Reframing bekomme ich neue Möglichkeiten zum Handeln
Diese Suche nach einer möglichen anderen Bedeutung für eine nervige Verhaltensweise ist ein klassisches Reframing. Es gibt der Aktion im übertragenen Sinne einen neuen Rahmen, wodurch sie gleich ganz anders wirkt. Dadurch komme ich aus meinem Tunnelblick raus, der sich beim Ärgern einstellt, und ich kann mich entscheiden: Will ich mich weiter ärgern? Will ich den Typen mit dem Einkaufswagen ignorieren? Oder will ich ihm irgendwas dazu sagen?
Dieser innerliche Schritt zurück dauert nur einen kurzen Moment. Ich atme einmal tief durch, kann wieder klarer denken und bin in der Lage zu entscheiden, in welchem Ton ich jetzt rede – falls ich etwas sagen möchte. Da ich keine Heilige bin, wäre mein erster Impuls: anpampen (“Ey! Kannst du nicht aufpassen? Du stehst hier nicht alleine in der Schlange!”). Wäre das hilfreich, um mich weniger zu ärgern? Vermutlich nicht. Also entscheide ich mich für die Variante “freundlich und sehr deutlich”:
- Das ärgerliche Ereignis benennen: “Sie fahren mir gerade mit Ihrem Wagen in die Hacken.”
- Sagen, was ich will: “Halten Sie bitte mehr Abstand.”
Keine Erklärung, keine Entschuldigung, mit fester Stimme. Das reicht in den allermeisten Alltagssituationen, damit sich etwas ändert.
Mein Alltag ist viel entspannter geworden
Ich persönlich entscheide mich in der Mehrheit der Fälle übrigens dafür, das Verhalten zu ignorieren, was mir bis eben noch auf die Nerven gegangen ist. Beziehungsweise: Ich kann den Ärger loslassen, weil ich eine Erklärung gefunden habe, wie dieses Verhalten sinnvoll sein könnte und dass es nichts mit mir zu tun hat. Spart sehr viel Energie und macht mein Leben viel, viel entspannter.
Falls du jetzt denkst, ich laufe irgendwie mit einem Heiligenschein durch Berlin, muss ich dich allerdings enttäuschen. Vor allem über völlig überflüssige Nerv-Telefonate kann ich auch noch beim Abendbrot hervorragend fluchen… Aber ich lasse mir davon nicht mehr den Tag verderben!
P.S.: Dieser Artikel ist im Rahmen der Blog-Dekade 2022 entstanden, einer Challenge, an der viele Bloggerinnen aus der Content Society teilnehmen. Bis zu zehn Blog-Artikel in zehn Tagen können dabei entstehen. Hört sich völlig verrückt an? Find ich auch! Und deswegen bin ich dabei.
Bin über dein 4/12-Bild (Juni-2023-12-von-12-Artikel) auf diesen Artikel gestoßen.
“Ich frage mich, welche positive Absicht wohl hinter dem Verhalten der anderen Person steckt, über die ich mich gerade so ärgere.” Das ist eine sehr gute Frage und werde ich nächstes Mal gleich ausprobieren, wenn ich mich mal wieder ärgere.
LG – Uli
Hehehe – schön, wenn ich dir eine Idee geben konnte, Uli! Ich mag aber auch *deinen* Ansatz, den ich von dir in einem Posting gelesen habe: Wenn du dich über jemanden ärgerst, stellst du dir vor, welche Rolle die Person in deinem nächsten Krimi spielt. Ich schreib zwar keine Krimis, aber mir zu überlegen, für welche Filmrolle ich den Menschen besetzen könnte – das probier ich aus! 😀